RP07 - 0.9.5
re:publica 07
Leben im Netz
Speakers | |
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Julian Kücklich |
Schedule | |
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Day | 3 |
Room | Workshop 1 |
Start time | 11:00 |
Duration | 01:00 |
Info | |
ID | 44 |
Event type | Lecture |
Track | Kultur |
Language | German |
Online-Rollenspiele als soziale Utopieräume
Der literarische Realismus spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung und Ausdifferenzierung moderner Demokratien im 19. Jahrhundert – besonders in den USA schufen die Romane von Henry James, Mark Twain und anderen Autoren des Realismus soziale Experimentierräume, in denen zu Hause im Sessel verschiedene Gesellschaftsentwürfe miteinander verglichen und voneinander abgegrenzt wurden. Der realistische Roman ist also untrennbar verbunden mit dem Bereich des Sozialen und insbesondere den sozialen Entwicklungen der Neuzeit. Diese Rolle der Literatur wurde im 20. Jahrhundert weitgehend von audiovisuellen Medien – vor allem dem Film – übernommen. Nun, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, zeichnet sich jedoch ein weiterer Medienumbruch ab: Soziale Experimentierräume entstehen nicht mehr nur bei der Lektüre oder beim Betrachten eines Films im Kopf des Rezipienten, sondern werden in Form von Online-Rollenspielen (MMOGs) einem zahlenden Publikum zugänglich gemacht. Spiele wie The Sims Online, EverQuest und Star Wars Galaxies schaffen riesige Schattengesellschaften, die reale Gesellschaften nicht nur spiegeln, sondern auch kommentieren und karikiieren.
Jüngere Entwicklungen wie die so genannte Tribalisation der postindustriellen Gesellschaft werden auch in Spielen wie Ultima Online und Asheron's Call nachvollzogen. Und das "Überfließen" virtueller Ökonomien in die reale Welt ist ein deutliches Symptom, dass das Zeitalter des virtuellen Kapitalismus längst angebrochen ist. Die Do-it-yourself-Kultur, die sich im Umkreis von MMOGs etabliert hat, erinnert an neue Formen der dispersed labour – ob es sich nun um digitalen Nomadismus oder die Halbleiterfabriken in Südostasien handelt.
All dies sind Hinweise darauf, dass die Zukunft des sozialen Realismus – mit der für ihn charakteristischen Spannung zwischen nüchterner Beschreibung des Status Quo und utopischer Überhöhung einer möglichen Zukunft – im Cyberspace liegt. Es ist daher fruchtbar die Traditionslinien zu verfolgen, die zwischen dieser neuen Form des sozialen Kommentars und früheren Formen in der Literatur und im Film verlaufen. Dadurch ist es möglich, das Konzept des Realismus kritisch zu hinterfragen und für eine gesellschaftspolitische Analyse von MMOGs fruchtbar zu machen.